"Redet mit den Menschen, nicht über die Menschen!"
Podiumsdiskussion mit Bundestagskandidaten über Inklusion und Teilhabe:
Sieben Bundestagskandidaten der SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke sowie über 200 Gäste folgten der Einladung zu einer Podiumsdiskussion zur Zukunft der Menschen mit Assistenzbedarf in die Werk°Stadt Witten. „Von den angefragten Kandidaten der CDU erhielten wir zwei Absagen und von einer Kandidatin gar keine Rückmeldung“, so Mitveranstalter Jan-Philipp Krawinkel, Geschäftsführer des Paritätischen im Ennepe-Ruhr-Kreis.
Eingeladen hatten die Christopherus-Lebensgemeinschaft e.V. (CLG e.V.), einem Verein Angehöriger von Menschen mit Assistenzbedarf, der traditionell bereits seit 30 Jahren vor den Bundestagswahlen die Kandidaten zum politischen Austausch einlädt, das Christopherus Haus e.V., ein Leistungsanbieter für Menschen mit Assistenzbedarf in Witten, Bochum und Dortmund, die Lebenshilfen Witten und Bochum sowie die Kreisgruppen Ennepe-Ruhr-Kreis und Bochum des Paritätischen NRW. „Wir hatten uns im Vorfeld darüber verständigt, die Bundestagskandidaten der derzeit im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien einzuladen“, ergänzte Wilfried Blappert, Vorstandsmitglied des CLG.
Insgesamt zeigten sich alle Mitwirkenden sehr zufrieden über die Beteiligung und der lebhaften Diskussion zwischen den Politikern und Publikum, überwiegend Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung, Angehörigen, Fachkräften und Vertretern der Sozialverbände. Es wurde kontrovers über Themen von Barrierefreiheit und Inklusion, der Sicherung der Existenz von Förderschulen, von Werkstätten und von Wohnplätzen diskutiert und auch ganz konkret berichtet.
Eine junge Frau erzählte, dass sie nach zwei vergeblichen Versuchen vom Besuch von zwei Regelschulen einen erfolgreichen Schulabschluss auf einer Förderschule erreicht habe, dann aber durch Bürokratie und Bestimmungen in ihrer beruflichen Entwicklung regelrecht behindert wurde. Eine Medizinstudentin berichtete, dass ihr Antrag auf Assistenzbedarf seit einem Jahr zwischen den Behörden hin und her wandere. Ludger Linneborn, Mitglied im Aufsichtsrat des Christopherus-Hauses und Vater einer schwer mehrfach behinderten Tochter, hob mit großer Sorge hervor, dass seit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) der Ausbau von Plätzen mit besonderer Wohnform nicht mehr gefördert werde. Gerrit Thüne-Valtin, Vorstand des Christopherus-Hauses, verwies nicht nur auf lange Wartelisten und fehlende Wohnplätze, sondern auch auf bürokratische Doppelstrukturen wie beispielsweise einer zweifachen Überprüfung durch die Heimaufsicht und dem Landschaftsverband. „Es ist auch nicht logisch, dass ein Mensch mit einer dauerhaften Beeinträchtigung regelmäßig seinen grundsätzlichen Assistenzbedarf beweisen muss“, so Thüne-Valtin. Über eine seit des Inkraftretens des BTHG überbordenden Flut von Formularen berichteten alle Beteiligten, sowohl Behinderte, die eigenständig diese Anträge ausfüllen, als auch Betreuer, oftmals Eltern und Angehörige, nicht selten habe sich die Antragstellung bei unterschiedlichen Ämtern und Behörden verdreifacht.
„Es gab kaum Dissenz zum Thema Bürokratieabbau - aber es ist auch klar, dass der Umbau von Institutionen und Abläufen hin zu echter Teilhabe eine Großbaustelle ist, die uns alle noch viele Jahre beschäftigen wird. Und die Frage der Finanzen wird sicher noch zu weiteren, auch kontroversen Diskussionen führen“, so Cornelia Benninghoven, die die Veranstaltung moderierte. Nicht alle Fragen und Statements des Publikums fanden Zeit und Raum, nicht alle Themen konnten abschließend diskutiert werden. „Anderthalb bis zwei Stunden können immer nur ein Anfang sein. Wahldiskussionen gehen bei allen politischen Unterschieden auch ohne Polemik und Provokation, das bewies der Abend“, so Benninghoven. Ulf Kauer, Geschäftsführer der Lebenshilfe Bochum, appellierte zum Abschluss an die Politiker: „Sprecht nicht über die Menschen, sondern sprecht mit den Menschen!“